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Title
Replacing the Dead. The Politics of Reproduction in the Postwar Soviet Union


Author(s)
Nakachi, Mie
Published
Extent
327 S.
Price
€ 32,35
Reviewed for H-Soz-Kult by
Birte Kohtz, Deutsches Historisches Institut Moskau, Max-Weber-Stiftung

Die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch wuchs am westlichen Rand der Nachkriegssowjetunion auf. Die Dörfer ihrer Kindheit beschrieb sie als eine „Welt der Frauen“ (S. 21).1 Der Vernichtungskrieg hatte das Land eines erheblichen Teils seiner Bevölkerung beraubt und dabei das Zahlenverhältnis der Geschlechter grundlegend verschoben. Pronatalistische Maßnahmen sollten die Geburtenrate anheben und so die demografische Katastrophe kompensieren, zeitigten jedoch nie die erwünschten Erfolge. Das Bevölkerungswachstum, ein wichtiges Erfolgskriterium des sozialistischen Gesellschaftsmodells, blieb insbesondere im europäischen Teil des Landes durchgängig niedriger als angestrebt. Während im Namen des Pronatalismus revolutionäre Ideale von sozialer Gleichheit und Befreiung der Frau verraten wurden, war zugleich ab den sechziger Jahren Familienplanung von einer „Kultur der Abtreibung“ geprägt: Schwangerschaftsabbrüche stellten das nahezu einzig verfügbare Mittel zur Familienplanung dar und fanden dementsprechend häufig statt.2

Wie diese paradoxe Situation entstehen konnte, analysiert Mie Nakachi in ihrer dichten und zugleich konzisen Untersuchung zu Reproduktionspolitiken in der Nachkriegssowjetunion, die auf einem umfangreichen Fundament minutiös ausgewerteter Quellen ruht. Neben Protokollen und Berichten aus den hauptstädtischen Archiven zählen hierzu Gerichtsakten und Petitionen lokaler Provenienz sowie Briefe an sowjetische Politiker und Zeitzeugeninneninterviews. Im Zentrum der Studie stehen zwei Gesetze, einerseits das Familiendekret von 1944, andererseits das Gesetz zur (Re-)Legalisierung der Abtreibung aus dem Jahr 1955.

Nakachi untersucht deren jeweilige Genese und ihre Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit der sowjetischen Bürger und insbesondere Bürgerinnen aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive in zwei Erzählsträngen, die über sechs Kapitel hinweg alternieren und sich immer wieder überschneiden. Durch diese Form der Narration gelingt es der Autorin eindrucksvoll aufzuzeigen, wie die in der Arbeit behandelten Themenkomplexe zusammenhingen und einander bedingten.

Das Familiendekret, dessen Entstehung im Mittelpunkt des ersten Kapitels steht, betonte in seiner schließlich verabschiedeten Form vor allem den Ausbau staatlicher Unterstützung für alleinstehende Mütter und kinderreiche Familien. Nakachi zeigt anhand der dem Gesetz vorangehenden Entwürfe und Aushandlungsprozesse, dass sein tatsächlicher Zweck jedoch vor allem darin bestand, Männer zu ermutigen, mit mehreren Frauen Kinder zu zeugen. Zu diesem Zweck entließ das Dekret sie aus der finanziellen und sonstigen Verantwortung für ihren außerehelichen Nachwuchs und begründete so eine rechtliche Ungleichstellung ehelicher und unehelicher Kinder. Daneben führte es Strafsteuern für Kinderlose oder Eltern weniger Kinder ein, erschwerte Scheidungen und verschärfte das Abtreibungsverbot von 1936.

Das Familiendekret prägte sowjetische Familienpolitik über Jahrzehnte, denn trotz seiner Ineffizienz hielt die Führung an ihm fest und ignorierte seine sozialen Auswirkungen. Es stellt eines der Verdienste des Buches dar, dass Nakachi den Blick auf genau diese Auswirkungen richtet und so herausarbeiten kann, dass es sich bei den reproduktionspolitischen Maßnahmen nicht nur um einen Verrat an sozialistischen Idealen von Gerechtigkeit und sozialer Gleichheit handelte, sondern auch um einen destabilisierenden Faktor für die sowjetische Gesellschaftsordnung. So wird in dem der Ehe und Scheidung in der Nachkriegszeit gewidmeten dritten Kapitel deutlich, wie das Dekret Spannungen zwischen den Geschlechtern verstärkte: Es führte paradoxerweise zu mehr Scheidungsanträgen und vertiefte den durch das zahlenmäßige Ungleichgewicht und auch eine doppelte Sexualmoral bereits vorhandenen Graben zwischen bindungsunwilligen Männern und Frauen, die angesichts der neuen Gesetzeslage umso mehr auf eine eheliche Geburt ihrer Kinder angewiesen waren.

Zugleich erfüllte das Dekret die in es gesetzten Hoffnungen auf Bevölkerungszuwachs nicht. Sowjetische Demografen, die sich über andere Ursachen hierfür nicht frei äußern konnten, fanden eine Erklärung für das Scheitern in der hohen Zahl illegaler Schwangerschaftsabbrüche. Trotz drohender Geld- und Freiheitsstrafen trieben Frauen klandestin ab. Die Zusammenarbeit der Frauenpolikliniken mit den Strafverfolgungsbehörden verhinderte dies nicht, sondern beschädigte das Vertrauen der Patient:innen und frustrierte die Ärzt:innen, die die Frauen so nicht vor den gesundheitlichen Folgen unsachgemäß durchgeführter Schwangerschaftsabbrüche schützen konnten, wie das zweite Kapitel der Arbeit zeigt.

In mehreren großangelegten Befragungen bemühten sich in der Nachkriegszeit das Gesundheits- und das Justizministerium darum, herauszufinden, warum die Zahl illegaler Abtreibungen kontinuierlich hoch blieb. Nakachi arbeitet im vierten Kapitel des Buches heraus, wie eng diese Gründe mit der Familienpolitik zusammenhingen: Die Maßnahmen des Dekrets förderten mitnichten die Bereitschaft schwanger zu werden, sondern trugen dazu bei, die Lebensumstände vieler sowjetischer Frauen zu unsicher werden zu lassen, um ein (weiteres) Kind zu bekommen. Insbesondere die fehlende Unterstützung durch den potenziellen Vater wurde von zahlreichen Befragten als Grund genannt, Schwangerschaften nicht auszutragen.

Obwohl aus den Studienergebnissen somit abzulesen war, dass der männerzentrierte Ansatz des Dekrets nicht funktionierte, konnten derartige Zusammenhänge nicht offiziell benannt werden. Sowohl unter Stalin als auch unter Chruščev, der federführend an dem Dekret von 1944 beteiligt war, betrachtete die oberste Führungsebene das Problem durch eine statistikverliebte demografische Brille, die eine spezifische Wahrnehmung und entsprechende Entscheidungen bedingte.

Für die aus Sicht ärztlicher Expert:innen notwendige Aufhebung des Abtreibungsverbotes mussten daher andere, mit diesen Überzeugungen konsistente Argumente gesucht werden. Gesundheitsministerin Marija Kovrigina, auf deren Initiative das Abtreibungsverbot 1955 aufgehoben wurde, fand diese vor allem in der Gefährdung der weiblichen reproduktiven Gesundheit und somit auch des demografischen Wachstums durch unsachgemäß durchgeführte Abtreibungen. Die der Aufhebung des Abtreibungsverbots vorangehenden Diskussionen und auch das Gesetz selbst werden im fünften Kapitel des Buches erörtert, das in besonderem Maße von Nakachis intensiver Auseinandersetzung mit den Quellen profitiert. Anhand der Briefe und Eingaben, mit denen sich Frauen an die Regierung wandten, um medizinische Unterstützung bei der Abtreibung einzufordern, gelingt es ihr hier, eine Perspektive von unten einzunehmen. So kann sie zeigen, wie sich in der ersten Hälfte der 1950er-Jahren eine „Sprache der reproduktiven Rechte“ entwickelte, die sowohl von den Frauen wie auch den Reformator:innen der Abtreibungsgesetze genutzt wurde. Zwar wäre zu diskutieren, ob hier, wie Nakachi postuliert, tatsächlich die Mediziner:innen die Sprache der Frauen adaptierten oder nicht vielmehr deren Sprachmodus soziales Wissen über Sagbares zum Thema Abtreibung widerspiegelte. In jedem Fall wird jedoch deutlich, dass hier der Diskurs über die Grenzen medizinischen Expertentums hinausreichte und von einer spezifisch sowjetischen Rhetorik der Wahlfreiheit bzw. reproduktiver Rechte geprägt war: Anders als die feministisch geprägte Abtreibungsdebatte im Westen ließ er keine grundsätzliche Infragestellung von Mutterschaft zu. Lediglich über den Zeitpunkt des Gebärens wurde den Frauen nun ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit zugestanden, von der sie in den folgenden Jahrzehnten umfassenden Gebrauch machten. Die legalisierte Abtreibung wurde aller pronatalistischen Propagandaarbeit zum Trotz zum massenhaft angewandten Mittel der Familienplanung, zur „Fließband-OP“.

Nakachi führt dies im letzten Kapitel der Arbeit darauf zurück, dass sowjetische Mütter auch in den kommenden Jahrzehnten keine ausreichende Unterstützung erfuhren, sondern mit der dreifachen Bürde von Berufsarbeit, Kindererziehung und Haushaltsführung weitgehend alleingelassen wurden. Zwar wurden die Familiengesetze und auch die staatlichen Unterstützungsleistungen mehrfach reformiert, von einer auch nur annähernd gerechten Verteilung der Lasten zwischen den Geschlechtern konnte jedoch keine Rede sein, was in einer anhaltend niedrigen Geburtenrate resultierte. Die Autorin räumt ein, dass es sich bei der ungleichen Aufteilung von Familienarbeit um ein auch andernorts vorhandenes Problem handelte und auch etwa in Deutschland oder Italien die Geburtenraten zu dieser Zeit nachhaltig sanken. Sie sieht das Spezifikum des sowjetischen Falls vor allem darin, dass sich im Kontext der Mangelwirtschaft die Mehrfachbelastung besonders verheerend auf die Kraftressourcen der Frauen auswirken musste. Diese waren zudem in einem größeren Umfang berufstätig als in vielen kapitalistischen Ländern, ohne auf die dort vorhandenen Dienstleistungsangebote zurückgreifen zu können.

Obwohl der engere Untersuchungszeitraum des Buches etwa zehn Jahre beträgt und es sich auf den ersten Blick um die Entstehungsgeschichte zweier Gesetze handelt, weist die Studie weit darüber hinaus und vermittelt grundlegende Erkenntnisse über sowjetische Biopolitik und Gesellschaft. Aufschlussreich ist etwa der sich aus der Lektüre ergebende Einblick in die Mechaniken der Politikfindung: Die reproduktionspolitischen Maßnahmen waren von dem Wunsch nach einer Steigerung der Geburtenrate geprägt, sie funktionalisierten die Frauen und ignorierten deren Lebensrealität – und funktionierten eben deshalb nicht. Auch andere jüngere Arbeiten zu biopolitischen Maßnahmen in der Sowjetunion konstatieren eine solche Ignoranz der Auswirkungen des eigenen politischen Handelns, die Unfähigkeit, falsche Prämissen zu erkennen und zu korrigieren, und verweisen somit darauf, dass es sich hier um ein grundsätzliches Problem handelte.3

Der geschlechtergeschichtliche Zugriff der Arbeit, vor allem ihr Fokus auf die Lebenssituation der Frauen, erweist sich insofern als sehr fruchtbar, als hier deutlich wird, dass allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz von einer revolutionären Befreiung der Frau im Untersuchungszeitraum schon keine Rede mehr sein konnte. Sowjetische Reproduktionspolitik ließ Frauen mit der Last der Familienarbeit weitgehend allein und brachte sie in einen kaum lösbaren Zwiespalt zwischen einem erfolgreich etablierten Rollenbild der Frau als Mutter und den realen Gegebenheiten. Sie stärkte innerfamiliär die Machtposition der Männer, erleichterte es ihnen zugleich, sich familiärer Zuständigkeit zu entziehen, und förderte so eine Kultur der ungleichen Verantwortlichkeit. Nakachi weicht hier in ihrer Analyse von älteren Forschungsbeiträgen ab, die das Phänomen des sich entziehenden Mannes eher in einer engen Allianz zwischen den Frauen und dem Staat begründet sahen.4 Ihr Argument, dass die staatliche Fürsorge für die Frauen weder ausreichte, noch angesichts der damit einhergehenden Kontrolle für diese wünschenswert war, ist aber überzeugend.

Die so geschaffenen Gegebenheiten prägten auch die Politik und Gesellschaft des postsowjetischen Russlands, das die Autorin in einem kurzen Epilog in den Blick nimmt. Mie Nakachis Studie ist somit nicht nur den an Demografie und Biopolitik interessierten Leser:innen unbedingt zu empfehlen, sondern allen, die sich mit der Geschichte sowjetischer und postsowjetischer Gesellschaften befassen.

Anmerkungen:
1 Siehe auch die deutsche Version der Vorlesung: Svetlana Alexievich, Nobelvorlesung, Stockholm, 07.12.2015, https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2015/alexievich/25402-svetlana-alexievich-nobelvorlesung/ (09.06.2023).
2 Zu dem Begriff siehe: Elena A. Zdravomyslova, Gendernoe graždanstvo i abortnaja kul’tura, in: Dies. / Anna Temkina (Hrsg.), Zdorov’e i doverie, SPb 2009, S. 108–135.
3 Vgl. Jessica Lovett, „The Fate of the Nation“. Population Politics in a Changing Soviet Union (1964–1991), in: Nationalities Papers (2022), S. 1–20, hier S. 16.
4 Vgl. Elena Zdravomyslova, Die Konstruktion der ‚arbeitenden Mutter‘ und die Krise der Männlichkeit. Zur Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit im Kontext der Geschlechterkonstruktion im spätsowjetischen Russland, in: Feministische Studien 1 (1999), S. 23–34.

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